Veronika Schmidtke-Sieben (Göttingen), Irene Sieben und Elena Blum (beide Berlin), Enkelinnen der in Krumbach-Hürben geborenen Dichterin, Sprachlehrerin, Erzieherin und Übersetzerin Franziska Lachmann-Otto, übergaben am 21. November 2024 in den Räumen der Universität Augsburg wertvolle Dokumente aus dem Nachlass ihrer Großmutter an Prof. Klaus Wolf. Vermittelt hatte den Kontakt Beate Hamp-Wohllaib (Krumbach), die mit der Familie seit Längerem durch gemeinsame Projekte und private Begegnungen freundschaftlich verbunden ist.

Die bemerkenswerte Sammlung umfasst Franziska Lachmann-Ottos gesammelte Gedichte, Bilder, Lebenszeugnisse, Korrespondenz und Objekte mit Bezug zur Familie. Sie dokumentiert damit exemplarisch auch die regionale, europäische und transatlantische jüdische Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts über NS-Zeit, Emigration und Exil bis zum Neubeginn in Argentinien und Deutschland vor bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg – ebenso wie die Lebenswege von Frauen jüdischer Abstammung zwischen tradierten und neuen Glaubensformen und Rollenbildern, Emanzipation, Künstlertum, alternativen Lebensformen und Pazifismus.

In Planung ist, nach Erschließung des Nachlasses, die Edition der Gedichte Franziska Lachmann-Ottos mit einer Dokumentation zu deren Leben und Werk im Kontext von Familien- und Zeitgeschichte.

Franziska Lachmann-Otto wurde 1874 in Krumbach-Hürben geboren als Tochter des durch seine Edition traditioneller Synagogengesänge weithin bekannten Kantors Isaak Lachmann. Wie ihre ältere Schwester Hedwig und später drei Brüder lässt sie sich 1894, nach Besuch des fortschrittlichen überkonfessionellen Fernsemer’schen Instituts für Höhere Töchter in Krumbach und Sprachenstudium in Augsburg, als Sprachlehrerin, Erzieherin und Übersetzerin in Berlin nieder. Hedwig führt sie in die avantgardistische, freie Szene der Stadt, die „Neue Gemeinschaft“ und den „Friedrichshagener Dichter- und Künstlerkreis“, ein, dem auch ihr Lebensgefährte Gustav Landauer, Paula und Richard Dehmel sowie Gerhard Hauptmann angehören – wie auch der Sozialreformer und spätere Generalsekretär der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft Adolf Otto, nach seiner Scheidung Franziskas (konfessionsloser) Ehemann. In dieser Zeit entstehen ihre frühen lyrischen Werke.
Mit den 1908 und 1910 geborenen Töchtern Ulrike und Agathe lebt das Paar in der von Otto mitkonzipierten Gartenstadt Falkenberg, einer innovativen Form genossenschaftlichen Siedlungsbaus. Das offene Gemeinschaftsleben mit internationalem Freundeskreis wird immer wieder von schweren Belastungen getroffen: dem frühen Tod der Schwester Hedwig Lachmann, der Ermordung des Schwagers Gustav Landauer, Ottos Beziehung zu Dr. Gertrud Laupheimer (die gemeinsame Tochter Linde werden Franziska und ihre Töchter später mit in die Familie aufnehmen).
Mit Machtergreifung der Nationalsozialisten trennen sich die Lebenswege dramatisch: Tochter Ulrike und ihr späterer Ehemann Franz Blum emigrieren 1933 nach Paris, 1936 nach Buenos Aires. 1937 folgt ihnen Franziska angesichts der zunehmend lebensbedrohlichen Situation über die USA  nach. Sie findet bei der jungen Familie mit den 1943 und 1945 geborenen Töchtern Elena und Mariana eine neue Heimat. Adolf Otto flieht 1933 über London nach Paris und lebt dort bis zu seiner 1942 vom NS-Regime erzwungenen Rückkehr nach Berlin, wo er 1943 stirbt. Zu einer Emigration nach Argentinien konnte sich der überzeugte Europäer nicht entschließen, auch blieb er so seinen Töchtern Agathe und Linde sowie deren Mutter nahe. Agathe lebt und überlebt unter schwierigsten Bedingungen mit ihrem Partner Richard Sieben und den 1941 und 1943 geborenen Töchtern Veronika und Irene in Berlin.
Die große Familie und der Freundeskreis blieben dennoch eng verbunden – so dokumentieren es die zahlreichen Briefe. Franziska Lachmann-Otto, die in Buenos Aires wieder als Sprachlehrerin und Übersetzerin tätig sein, einen neuen Zugang zu ihrem jüdischen Glauben und darin Trost und Hoffnung finden konnte, hat all dem Erlebten in tief empfundenen Gedichten Ausdruck verliehen.

Veronika Schmidtke Sieben, Irene Sieben und Elena Blum präsentieren Klaus Wolf die aus ihren Privatsammlungen stammenden Dokumente ihrer Großmutter Franziska Lachmann.

Klaus Wolf im Gespräch mit Michael Broemse (Göttingen) und Elena Blum.

Großeltern, Tochter und Enkelin – drei Generationen in einem Bild vereint: Elena Blum präsentiert eine Fotografie von 1908 mit ihren Großeltern Franziska Lachmann-Otto und Ehemann Adolf Otto als glückliche Eltern nach Geburt ihrer ersten Tochter Ulrike Otto (verheiratete Blum, Elena Blums Mutter).

Klaus Wolf bringt die übergebenen Dokumente in sichere Verwahrung.

Die an der Schenkung beteiligten Personen (v. li.): Beate Hamp-Wohllaib und Klaus Wolf mit Irene Sieben, Elena Blum und Veronika Schmidtke-Sieben.

Am 22. November erkundeten Irene Sieben und Elena Blum zusammen mit Beate Hamp-Wohllaib die kulturellen Sehenswürdigkeiten Augsburgs, einschließlich der Fuggerei – ein Muss für die Enkelinnen des Wohnbau-Reformers Adolf Otto.